Der Jugendmedienstaatsvertrag

#0
30.11.2010, 20:55
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#1 Wenn alles nach "Plan" verläuft wird Ende des Jahres der sogenannte Jugendmedienstaatsvertrag verabschiedet:
http://www.heise.de/newsticker/meldung/Blog-macht-wegen-neuem-Jugendschutzgesetz-dicht-Updates-1144566.html

Zitat

Die Novellierung des Jugendmediendienstestaatsvertrags (JMStV) sieht vor, dass ab 2011 jeder Anbieter seine Webseiten auf jugendgefährdende Inhalte hin überprüfen, klassifizieren und Maßnahmen zum Schutz der Jugend vor diesen Inhalten treffen muss. Die Klassifizierungsstufen beruhen dann auf den aus dem Filmbereich bekannten Altersfreigaben (ab 0, 6, 12, 16 und 18 Jahren).
Das gilt für absolut jeden der in Deutschland eine Seite betreibt also das Protecus Forum ebenso wie das Katzenblog von nebenan. Was da konkret auf uns zukommt erklärt VZlog.de:
http://www.vzlog.de/2010/11/in-eigener-sache-wir-schliesen-am-31-dezember-2010/

Zitat

Zukünftig gibt es drei Möglichkeiten, wie ein Inhalteanbieter wie VZlog.de den Jugendschutz sicherstellen kann:
• Durch Altersverifikation z.B. durch einen Personalausweis, Postident oder ähnliches
• Durch “Sendezeiten”, welche die Verfügbarkeit von Inhalten einschränken
• Durch Alterskennzeichung, dass das Angebot ab 0 Jahre, 6 Jahre oder 12 Jahre geeignet ist

Die ersten beiden Optionen kommen für uns nicht in Frage, da sie aus finanziellen und technischen Gründen nicht umsetzbar sind, für ein Blog unserer Größe keinen Sinn machen und außerdem sichergestellt werden müsste, dass eine passende Alterseinstufung vorgenommen wird, ansonsten drohen erhebliche Strafen.

Die dritte Option ist eine Alterskennzeichnung auf einem niedrigen Level. Diese ist technisch leicht umzusetzen, jedoch mit erheblichem Aufwand verbunden und juristisch sehr unsicher. Wir müssten diese Einschätzung selbst vornehmen und können uns keine Experten auf diesem Gebiet leisten, die alle 845 Artikel, 1218 Medieninhalte und 15797 Kommentare bewertet. Wenn wir diese Bewertung selbst vornehmen und diese falsch ist, kann dies zu hohen Geldstrafen führen. Wenn wir uns aber auf die juristisch sichere Seite bewegen und das Blog ab 18 Jahre freigeben, müssen wir 1. oder 2. nutzen.
VZlog hat deswegen beschlossen das gesamte Blog zu schließen und sind damit nicht allein. Auch hier wird das sicher ein Thema sein, wenn man sich Threads wie diesen hier ansieht:
http://board.protecus.de/t5934-14.htm
"Du Fotze", "Fick mich" und eine Frau in Unterwäsche in einem Video, das könnte durchaus als "ab 16" durchgehen.

Ich beschäftige mich erst seit kurzem mit diesem Gesetz, habe aber den Eindruck das es katastrophal schlecht durchdacht und weltfremd ist. Auch Juristen sehen das so:
http://blog.beck.de/2010/11/30/jugendmedienstaatsvertrag-und-altersfreigabe-im-internet

Zitat

Was man in letzter Zeit als Gesetzgebungsentwürfe liest, schlägt einem auf den Magen. Sei es die Reform des Arbeitnehmerdatenschutzes oder das Buttongesetz gegen Internetabzocke - man wird den Verdacht nicht los, daß hier "Legastheniker" am Werke waren, die erst nach mehrfachen Anläufen ihr Jurastudium an irgendeiner C-Universität zu Ende gebracht haben.

Doch alles bisherige wird überboten durch den Jugendmedienstaatsvertrag, der Anfang 2011 in Kraft treten soll...

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01.12.2010, 04:29
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#2 Entartete Politik, welche sich zu einem bösartigen Krebsgeschwür in der Gesellschaft entwickelt hat!

Ich betreibe ebenfalls eine Webseite. Vor einiger Zeit hatte ich dort ein unbedeutendes Blog, eine Suchmaschine mit ausgewählten Links und ein für jedermann nutzbares Foto-Dingsbums, aber das ist bereits alles seit längerer Zeit im Orkus verschwunden, da es mir zu riskant wurde und auch Spammer und Cracker anlockte. Jetzt sind halt noch einige Links zu Radiostationen in der ganzen Welt vorhanden. Aber da diese Sender nicht immer nur für deutsche Kleinstkinder und hiesige Politiker geeignete Programm ausstrahlen, sondern harte Nachrichten und Informationen an deutschen Interessen vorbei, werde ich das wohl auch abklemmen müssen. Damit wird meine Webseite eigentlich obsolet - oder soll ich sagen: wegzensiert? Mit dem Gedanken, meine Seite komplett zu sperren und die Domain nur noch für e-Mail-Zwecke zu verwenden, spiele ich gerade.

Was machen die Macher von Protecus zukünftig? An einer Altersverifikation würde ich mich nicht beteiligen. Ausweise darf man nicht mehr kopieren und wenn ich eine Webseite nicht anonym nutzen darf, nutze ich sie halt gar nicht mehr. Was ich zu diesem Thema noch sagen möchte, bleibt mir im Halse stecken und könnte justiziable Aktivitäten auslösen - also laß ich das lieber.

Gute Nacht Deutschland; weckt mich, wenn wieder Vernunft eingekehrt ist!

(ein letzter?) Gruß
Faun
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01.12.2010, 12:54
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#3 In der Tat liegt die Problematik an diesem Gesetz darin, dass es stümperhaft zusammengeschustert wurde - als wenn man einen Maurer hingesetzt hätte, Spitzenunterhöschen für Victoria Secrets zu sticken.

Zumindest sollte es Foren und Blogs zunächst nicht wirklich betreffen, da hier noch die Haftungsprivilegien gelten. Ok, niemand möchte der erste sein, mit dem vor Gericht ein Präzedenzfall verhandelt wird. Dennoch denke ich, sollte man hier zunächst Ruhe bewahren und abwarten.
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Der Grabsteinschubser
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01.12.2010, 21:20
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#4 Um unseren werten Innenminister zu zitieren "Es gibt Grund zur Sorge, aber keinen Grund zur Hysterie" ;)

Klar ist Panik unangebracht, das Gesetz ist noch nicht durch und auch Experten wissen nicht genau was es wirklich bedeutet. Genau das sehe ich aber als Problem, das Internet wird immer mehr ein juristisches Minenfeld und findige Abmahnanwälte werden sich die Hände reiben ob der neuen Möglichkeiten. Bis es juristische Klarheit gibt können gut und gerne mal mehrere Jahre in's Lande ziehen und viele werden bis dahin wohl auf Nummer sicher gehen, was der Usability schadet.

Gewonnen ist durch diese Initiative übrigens gar nichts, da Jugendliche und Kinder auch weiterhin im Internet immer nur zwei Klicks von harter Pornografie, Gewaltverherrlichung oder beispielsweise Volksverhetzung entfernt sind. Dann halt nur noch auf ausländischen Servern, aber welche Rolle spielt das schon!?
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01.12.2010, 22:14
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#5 Dafür werden dann halt doch noch Stopp-Schilder aufgestellt -.-
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Der Grabsteinschubser
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04.01.2011, 15:37
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#6 Kurz vor Weihnachten wurde die Novellierung übrigens doch noch auf unbestimmte Zeit verschoben:
http://de.wikipedia.org/wiki/Jugendmedienschutz-Staatsvertrag#Novellierung_2010

Zitat

Am 15. Dezember 2010 kündigte die rot-grüne Regierungskoalition von Nordrhein-Westfalen an, gegen die geplante Novellierung des JMStV stimmen zu wollen,[15] nachdem sich die Opposition dagegen ausgesprochen hatte und die parlamentarische Mehrheit fraglich war.[16] Daraufhin wurde die Abstimmung des schleswig-holsteinischen Landtags über den Vertrag von der Tagesordnung genommen.[17] Der nordrhein-westfälische Landtag sprach sich am 16. Dezember 2010 einstimmig gegen die Novellierung des JMStV aus.[18] Die Novellierung des JMStV ist damit gegenstandslos und muss neu verhandelt werden. Bis zur Neuregelung bleibt der seit 2003 bestehende Jugendmedienschutz-Staatsvertrag vorerst in Kraft.
Ein passender Kommentar findet sich hier:
http://blog.beck.de/2010/12/17/jmstv-gekippt-sach-lach-oder-machtgeschichten-aus-nrw

Zitat

Wenn nun alle Fraktionen der Schwarzen, (Hell-)Roten und Grünen in NRW behaupten, ihr Abstimmungsverhalten habe nichts mit den derzeitigen Machtverhältnissen in NRW, sondern lediglich mit Sachfragen zu tun, so muss folgende Gegenfrage erlaubt sein: „Heißt dies, dass auch künftig bereits von den Ministerpräsidenten nach zahllosen Anhörungen ausgehandelte und beschlossene Staatsverträge zum Jugendmedienschutz noch von einzelnen Landtagsfraktionen eines Bundeslandes in letzter Sekunde aufgrund einer „abweichenden Einschätzung von Sachfragen“ gekippt werden könnten?“ Bejahendenfalls könnte man dies achselzuckend mit der Plattitüde der „gelebten Demokratie“ zur Kenntnis nehmen.

Ebenso gut ließe sich aber auch der Schluss ziehen, das – vorgeblich an Sachargumenten orientierte – Gezänk um den Jugendmedienschutz in den Länderparlamenten könne künftig zu einer Handlungsunfähigkeit auf dieser Entscheidungsebene führen. (...)
Wollen SPD und Grüne in NRW den JMStV nun ernsthaft „auf den Prüfstand“ stellen, nachdem bereit hunderttausende Euro von Steuergeldern für eine entsprechende Überprüfung durch das Hans-Bredow-Institut ausgegeben worden sind und die Untersuchungsergebnisse sich gerade im gestern abgelehnten Staatsvertrag-Entwurf zum Teil wiederfanden, so gehört aus meiner Sicht ebenso auf den Prüfstand, ob die Regelung des Jugendmedienschutzes für alle Medien (nicht nur für Kinofilme und Trägermedien) nicht im Rahmen einer einheitlichen Bundesregelung besser aufgehoben wäre.

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07.01.2011, 19:55
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#7 Die c't fasst es auch noch mal in der aktuelle Ausgabe gut zusammen, weil es so passend ist in voller Länge:
http://www.heise.de/ct/artikel/Editorial-1156962.html

Zitat

Jugendmedienschutz 21

Wie viele, die im Web aktiv sind, habe ich die geplante Neuregelung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags mit großer Sorge und zeitweise mit Zorn gesehen. Ich sollte für meine Website eine Altersklassifizierung vornehmen? Für jeden einzelnen Beitrag darauf? Nach welchen Kriterien? Und was war das für ein Blödsinn mit den Sendezeiten?

Als klar wurde, dass der Neuentwurf überraschenderweise scheitern würde, hätte ich eigentlich in Party-Laune geraten müssen. Da hatte sich in letzter Minute also doch noch die Vernunft durchgesetzt.

Mit Vernunft hat die Ablehnung des Vertrags aber gar nichts zu tun: Gescheitert ist er an parteipolitischen Machtspielchen. Nach über zwei Jahren Vorbereitung platzte das Abkommen zwei Wochen vor dem geplanten Inkrafttreten. Der JMStV ist das Stuttgart 21 der Netzpolitik geworden: lange Anlaufphase im Verborgenen, fragwürdiges Konzept, schlampige Umsetzung, dann plötzlich hektische Debatten und politischer Flurschaden - ein Musterbeispiel für fehlende Kompetenz bei den Entscheidungsträgern, aber auch bei der kritischen Öffentlichkeit, die viel zu spät in die Diskussion eingegriffen hat.

Auch über die Entscheidung selbst, unabhängig von ihrem Zustandekommen, kann ich mich nicht recht freuen. Sie bedeutet nämlich: Der alte JMStV von 2003 bleibt weiter gültig. Von ihm hat man bisher kaum je gehört, weil er für Websites völlig praxisfremd ist. Wenn die Inhalte auf Ihrer Website nicht für 13-Jährige geeignet sind, müssen Sie tagsüber den Stecker ziehen oder das Alter jeden Nutzers per Ausweisnummer herausfinden. Das wussten Sie nicht? Kein Wunder, denn niemand wollte diesen Quatsch im Zeitalter von YouPorn ernsthaft durchsetzen. Bisher jedenfalls: Die Aufregungen der letzten Wochen dürften manchen schlafenden Hund geweckt haben.

Hinter den Kulissen werden schon die Strippen für einen Neuentwurf gezogen. Vielleicht wird es wieder zwei Jahre dauern, und wahrscheinlich wird wieder etwas herauskommen, was die Netzgemeinde aufbringt. Dabei wäre es eine gute Gelegenheit, um endlich einzusehen: Die Idee, das Internet zu einem deutschen Kindergarten zu machen, wird niemals funktionieren.

Bei Kindern sind Whitelist-Lösungen sicher sinnvoll. Jugendliche dagegen haben oft bessere IT-Fähigkeiten als ihre Eltern. Sie werden sich nicht "schützen" lassen wollen und allen technischen Sperren zum Trotz immer wieder Inhalte aufspüren, die Eltern und Pädagogen die Sorgenfalten auf die Stirn treiben.

Die ununterbrochene Berieselung durch Informationen, Unterhaltung und Spiele stellt auch Erwachsene vor eine gewaltige Herausforderung. Statt Sperren jedweder Art braucht es daher Investitionen in Medienkompetenz - denn die hilft auch dann noch, wenn die Jugendlichen von heute 18 sind. (heb)

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